Ich betrete ein kleines Büro. Der Raum sieht aus, als würde jeden Moment sein Besitzer wieder zurück kommen und seinen Platz am Schreibtisch einnehmen. Ein Handy am Ladekabel, neben einem Kaffeebecher der auf einer braunen Akte steht, aus denen ein paar Zettel hervor gucken. Ich trete an den Schreibtisch ran. In dickten, roten Buchstaben konnte ich die Worte ‘Noctha - Vertraulich’ unter dem Kaffeebecher lesen. Na sieh mal einer an. Kleine schmutzige Geheimnisse in einer Klinik? Hatte der Chefarzt die Frau des Klinikeigentümers geschwängern und erhielt jetzt unter dem Tarnnamen Noctha die Ergebnisse des Vaterschaftstests? Oder liefen über die normale Medikamentenbeschaffung illegale Geschäfte mit Betäubungsmitteln? Vielleicht ein Deal mit der Mafia?
Ich lege das Verbandsmaterial auf dem Schreibtisch neben dem Handy ab und lasse mich auf dem Schreibtischstuhl sinken. Dummerweise war ich eine überaus neugierige Person mit einer mehr als blühenden Fantasie und steckte meine Nase gerne in Dinge, die mich rein gar nichts angingen. Und diese Akte lockte mit dem Versprechen, einen Moment aus der Apokalypse fliehen zu können. Ich stelle den halbvollen Kaffeebecher beiseite und öffne die Akte. Oben auf dem Papierstapel liegt, in feinsäuberlicher Handschrift verfasst, eine Liste mit Namen.
Tia Vikander
Travis Dunford
Bei dem Namen halte ich inne. Travis Dunford. Der Name meines Schwagers. Ich fahre mit dem Finger über den Namen. Für eine Weile hatte ich ihn tatsächlich vergessen. Ihn und die Tragödie die ich mit seinem Namen verband. Ich schlucke, schüttle den Kopf und zwinge mich weiterzulesen.
Noah Richardson
Dana Brooks
Nele Fischer
Kija Barakat
Meine Stirn legt sich in Falten. Wieso stand mein Name auf einer List in einer Klinik, in der ich nie im Leben einen Fuß gesetzt hatte?
Blair Frazer
Frida Schulz
Thomas Lohmann
Jared Dunford
Der Bruder von Travis? Was verdammt ging hier vor?
Rhain Katara Ducrayn
Julius Hammond
Theresa West
Timo Evans
Auch über die beiden Namen gleitet die Spitze meines Zeigefingers. Ich schlucke und blinzle die Tränen fort, die in meinen Augen brennen. Ganz egal was die Liste zu bedeuten hatte, Theresa und Timo würde es nicht mehr betreffen.
Max Niemann
Samuel Blake
Yi-Hyun Cho
Es folgen noch ein paar weitere, die alle durchgestrichen sind. Ich lege die Liste beiseite. Bei den nächsten Seiten handelt es sich um Steckbriefe über die Personen, deren Namen auf der Liste unterstrichen worden waren. Name, Größe, Beruf, Familienstand, Krankenakte. Egal wie sehr ich mir über diese Akte den Kopf zerbrach, ich konnte mir einfach kein Reim daraus machen, warum jemand Steckbriefe nicht nur von mir, sondern auch den anderen angefertigt hatte. Es machte absolut keinen Sinn. Von der Liste kannte ich Travis, Jared, Theresa und Timo. Die anderen Namen waren mir gänzlich unbekannt. Auf den ersten Blick hatten wir auch absolut nichts gemeinsam. Wir kamen aus unterschiedlichen Bundesstaaten oder sogar Kontinenten. Wir waren alle nicht im selben Alter und gehörten auch nicht derselben Berufsgruppe an. Einzig eine kleine Randnotiz fand sich auf jedem Steckbrief. Rot geschrieben und mehrmals umkringelt. Blutgruppe Rh-Null.
Von draußen dringt das Geräusch eines herannahenden Autos an meine Ohren. Ich schlage die Akte zu, als hätte ich mich an ihr verbrannt und springe vom Stuhl auf, als würde mich gleich jemand dabei erwischen, wie ich meine Nase da rein gesteckt hatte. Tatsächlich brauche ich einen Augenblick um die Realität wieder greifbar zu haben. Niemand würde sich während der Apokalypse dafür interessieren, dass ich mir eine vertrauliche Akte angesehen hatte.
Der Wagen scheint direkt unter dem Bürofenster zu halten und kurz darauf erstirbt der Motor. Ich gehe zum Fenster rüber und sehe hinaus. Unten hatte ein Aston gehalten. Eine ganze Weile passiert nichts, dann öffnet sich eine der hinteren Türen. Die erste Person die das Auto verlässt ist eine junge Frau, gefolgt von einem jungen Mann, der ziemlich aufgebracht wirkt. Er packt sie am Arm und zieht sie ein Stück weg. Meine Stirn legt sich in Falten, während ich die Szene beobachte. Ich kann den Mann nicht richtig erkennen, da er mit dem Rücken zu mir steht. Die junge Frau, die er so heftig angeht, sieht allerdings aus wie eine der Personen auf den Steckbriefen. Ich wende meinen Blick von der Szene unten ab und sehe hinüber zu dem Schreibtisch, auf dem ein Stapel Papiere liegt. Ich verlasse meinen Platz am Fenster noch einmal und ziehe die Steckbriefe aus der Akte heraus. Gleich auf dem ersten Steckbrief ist das Foto einer jungen Frau mit braunen mittellangen Haaren zu sehen. Sie trägt einen Arztkittel und lächelt in die Kamera. Die Version hier auf dem Foto sah um einiges gepflegter aus und weniger abgeschlagen, als die Version die unten vor dem Gebäude stand, aber es war eindeutig ein und dieselbe Person. Tia Vikander. Ärztin. Unter anderem tätig in der Forschung. 26 Jahre und 1,66m groß. Nicht verheiratet. Eine Tochter. Wohnhaft in Deutschland.
Den Stapel Papiere in der Hand beziehe ich wieder Stellung am Fenster. Mittlerweile war auch der Rest aus dem Auto ausgestiegen. Insgesamt acht. Keine Ahnung wie alle in dem Aston Platz gefunden haben.
Ich betrachte jeden einzelnen von ihnen und gleiche sie mit den Fotos aus den Steckbriefen ab.
Der Mann, der eine Waffe in der Hand hielt war laut Steckbrief Julien Hammond. 2nd Lieutenant bei der Air Force. Technik- und Kommunikationsoffizier der Air Force Base in Glendale bei Phoenix. 25 Jahre alt und 1,85m groß. Die Rothaarige, die sich jetzt auf Tia zubewegte musste Rhain Katara Ducrayn sein. 26 Jahre und 1,65m groß. Ehemals Pilotin, allerdings seit 2017 wegen Mordes im Gefängnis in Phoenix. Samuel Blake gesellt sich zu den dreien. 23 Jahre und 1,72m groß. Pizzabote. Gehirntumor. Etwas abseits steht Jared Dunford, der Bruder von Travis. Staff Sergeant bei den Marine Corps. 29 Jahre und 1,92m groß. Wenn Jared hier war, war dann vielleicht der Mann, der mit dem Rücken zu mir stand sein Bruder Travis? Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, während mein Blick zu zwei Frauen gleitet, die sich kurz zum Auto begeben, etwas aus dem Kofferraum holen und anschließend das Gebäude der Klinik ansteuern waren die letzten beiden Steckbriefe. Dana Brooks. Fahrlehrerin und ehemalige Stuntfrau. 34 Jahre und 1,70m groß. Verheiratet, keine Kinder. Und Blair Frazer. Studentin an der University of Edinburgh. 21 Jahre und 1,63m groß.
Ich lasse die Zettel sinken. War es ein blöder Zufall, dass ich ausgerechnet auf die Gruppe traf? War es ein Zufall, dass ausgerechnet wir alle die Apokalypse bisher überlebt hatte? Ich verziehe das Gesicht und blinzle die Tränen weg. Nicht wir alle. Theresa und Timo hatten es nicht geschafft. Mit dem Handrücken wische ich mir eine Träne von der Wange und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen draußen.
Dana und Blair waren nicht mehr zu sehen. Der Rest stand nach wie vor ziemlich angespannt unten beim Auto. Von der Gruppe kannte ich nur Travis und Jared und unsere Begegnung lag schon eine Weile in der Vergangenheit. Ich hatte keine Ahnung wie die anderen auf mich reagieren würden. Ich hatte nicht mal eine Ahnung, wie die beiden Dunford Brüder reagieren würden. Ich war mir aber zumindestens sicher, dass sie mich den Kannibalen nicht zum Fraß vorwerfen würden.
Ich stopfe den Papierstapel in meine Umhängetasche und schiebe das übrig gebliebenen Stück des selbstklebenden Verbands hinterher. Ich schnappe mir noch zwei Kugelschreiber von dem Schreibtisch und gehe dann zur Bürotür. Ich zögere. Das Zusammentreffen mit den beiden Brüdern würde die Vergangenheit wieder in die Gegenwart katapultieren.
"Du schaffst das schon" murmle ich leise vor mich hin und schiebe mich durch die Bürotür auf den Gang hinaus. Die Drei, die vorhin das Klinikgebäude betreten hatten, dürften wohl kaum den Bürokomplex als Ziel Nummer eins ansteuern. Ein Grund warum ich mich in diesen Teil der Klinik zurück gezogen hatte, um mein Handgelenk zu verbinden und ein wenig Kraft zu tanken. Von den Fenstern aus hatte ich einen guten Blick über die Hauptzufahrtsstraße der Klinik gehabt. Die wichtigen Sektoren der Klinik, wie Behandlungsräume und Cafeteria, erreichte man über den Haupteingang oder den der Notaufnahme deutlich schneller. Eine Tatsache die mir Zeit verschaffen würde. Ich wollte nicht zuerst auf eine der anderen Treffen.
Eine Hand um den Gurt der Tasche geschlossen und in der anderen Hand die Kugelschreiber, husche ich den Flur entlang zum Treppenhaus. Drei Stockwerke nach unten, dann nach links. Noch zwei Mal um die Ecke und zwischen mir und dem Ausgang wären nur noch wenige Meter. Irgendwo hinter mir schallt ein Pfiff durch das Gebäude. Ich zucke zusammen und drehe mich um. Der Gang hinter mir ist weiterhin leer. "Komm schon Kija, einfach weiter." Mit wild pochendem Herzen drehe ich mich um, laufe um die Ecke und renne ungebremst in jemanden rein. "Shit" entfährt es mir, während ich zurück taumle. Das echte Leben war eben kein verdammtes Computerspiel, in denen die Verhaltensmuster der Charaktere einfach so berechnet werden konnten. Im echten Leben war der Personaleingang der Klinik anscheinend doch ein durchaus attraktiver Zugang zu dem Gebäude. Ich gehe ein Stück rückwärts, während ich diejenige zu betrachten, die sich zwischen dem Ausgang und mir befand. Rhain Katara Ducrayn, wenn die Unterlagen stimmten, die jetzt gerade tonnenschwer in meiner Tasche zu liegen schienen.